Als die Anstadt vergangenen Donnerstag von der Polizei eingekesselt, bedroht und schliesslich betreten wird, schreibt die Stadt Bern ein weiteres Kapitel unverhältnismässiger Repression im Umgang mit autonomen Freiräumen:
Erst sind es einige duzend Polizist*innen, dann mehrere Kastenwagen, schliesslich Drohnen, Hunde mit Maulkorb, Spezialeinheiten der Kantonspolizei Bern und später anderer Kantone, die den Platz umstellen. Bald dürfen die Bewohnenden den Platz, ihr zu Hause, nicht mehr betreten oder verlassen. Den ganzen Tag über leisten sie keinen Widerstand, was für die Polizei auch nicht anders hätte verstanden werden können; Stichwort Drohnen, Abhörtechnologie, Sondereinheiten etc. Eine potenzielle Gefährlichkeit, in der die Medien und die Polizei selbst die Rechtfertigung für ein derart unverhältnismässiges Vorgehen sehen, ist daher schlicht falsch.
Die Bewohner*innen der Anstadt haben sich wenige Augenblicke, nachdem sich diese schier apokalyptische Repressionskulisse aufzubauen begann, juristische Unterstützung geholt, die sodann mit der Polizei auch im Kontakt stand. Die Polizei hatte somit von Beginn weg einen Ansprechpartner. Dennoch wurde das einschüchternde Aufgebot sukzessive erhöht, während die Polizei den mandatierten Anwalt rund zwei Stunden warten liess. Nach unerklärbar langer Wartezeit wurde der Betretungsbeschluss erst am Nachmittag umgesetzt. Polizist*innen in Kampfmontur und mit Gummischrottgewehr mit Finger am Abzug betraten die Anstadt, durchsuchten das zu Hause vieler Menschen – teilweise entgegen den zuvor getroffenen Abmachungen ohne Beisein des Anwalts.
Dabei wurden sieben junge Menschen aufgrund explizit rassistischem «Signalement» verhaftet. Menschen, deren Lebensrealitäten prekärer nicht sein könnten. Menschen, für die sich (sozial)staatliche Institutionen nicht interessieren und deren Perspektive Opfer gesellschaftlichen Versagens ist. Für die Kriminalität nicht Hobby, Freizeitbeschäftigung oder Spass bedeutet, sondern pure Überlebensstrategie ist.
Auch diese Verhaftungen verliefen widerstandslos – wie wäre es unter diesen Umständen auch anders möglich gewesen.
Es kann daher nicht zynisch sein, wenn man nach der Motivation eines solchen Polizeiaufgebots ausserhalb reisserischer Narrative um «rechtsfreie Räume», «unklarer oder erwarteter Widerstand» oder «gefährliche Tresorräuber» fragt: Wir müssen uns als Gesellschaft fragen, wie viel Geld ein solcher Polizeieinsatz kostet, um sieben junge, prekarisierte und stigmatisierte Menschen festzunehmen, die sich gewaltlos gestellt haben. Wie viele Menschen man mit diesem Geld unterstützen könnte, damit Kriminalität nicht die Überlebensstrategie sein muss. Welche Lücken diese Ressourcen im Bildungs-, Gesundheits-, Sozialwesen usw. schliessen würden. Das Ziel eines solchen Einsatzes muss also augenscheinlich woanders liegen als dies von Medien und Polizei kommuniziert wird. Abschreckung? Eine gewaltvolle Demonstration staatlicher Machtverhältnisse? Prävention gegenüber Utopien und kreativen Alternativen zur Normalität?
Wir bedauern, dass Tamedia/Der Bund sich bei uns meldet, weil sie interessiert, wer die Schuldigen sind, ob wir sie kennen, wer festgenommen worden ist und wer nicht und was wir dazu meinen, wenn Herr und Frau Bund-Kommentierer*in einen zweiten Mythos «rechtsfreier Raum» heraufbeschwören. In einer Hochkonjunktur von True-Crime Formaten, sehen wir uns nicht dazu veranlasst, einen Beitrag zu oberflächlichem, sensationsorientiertem und unkritischem Journalismus zu leisten. Die Zeitung «der Bund» beackert mit seiner tendenziösen und schlicht falschen Berichterstattung rechte Narrative. Damit wird dem Wutbürger*innentum in den Kommentaren die Anschlussfähigkeit an den gegenwärtigen menschenverachtenden Rechtsrutsch eröffnet. Die Rolle der Medien als Korrektiv gegenüber problematischen Machtverhältnissen ist damit wohl definitiv kapitalistischer Klatschsucht zum Opfer gefallen. Stichwort: 19 Millionen Jahresgewinn der Tamedia, bei gleichzeitigem Stellenabbau. Anstatt über knackige «Tresorräuber»-Schlagzeilen zu sprechen, sollte man sich fragen, ob eine Gesellschaft nicht gerade die «Verbrecher» hat, die sie verdient!
Der vergangene Donnerstag hat gezeigt: es braucht eine kritische, differenzierte und widerständige Zivilgesellschaft! Wir müssen darüber sprechen, was das über eine Gesellschaft aussagt, wenn Politik und Polizei Racial-Profiling in seiner Reinform als Grundlage zutiefst unverhältnismässiger und unmenschlicher Symbole der staatlichen Gewalt herbeiziehen. Wenn bei einem derartigen Polizeieinsatz hunderte von solidarisierenden Menschen so weit zurückgedrängt werden, dass selbst eine distanzierte Beobachtung dieses Polizeieinsatzes – ohne dass dies «polizeitaktisch» notwendig gewesen wäre – unmöglich ist. Die Retrospektive zeigt: der Umstand, dass die Augen der Öffentlichkeit auf diese Ereignisse gerichtet waren, hat (noch) Schlimmeres abgewendet.
In diesem Sinne sind wir den Menschen, die vor Ort waren, uns ihre Solidarität und Unterstützung spüren liessen, laut waren, für die Betroffenen da waren und hin gesehen haben zutiefst dankbar. Merci, dass ihr da wart! Und es zeigt uns, dass wir viele sind, die sich an den schematischen Denkmustern nicht beteiligen wollen. Dass wir nicht alleine sind, dass wir gemeinsam stark sind!
Die Anstadt ist ein Ort, eine Idee, eine Bewegung, die für eine solidarische, ehrliche und herrschaftsfreie Welt steht. Eine Welt ohne Gummischrott und Polizeihelme, ohne Grenzen, Spaltung oder Faschismus. Eine Welt ohne Gewalt jeglicher Art. Eine Welt in der Privateigentum kein Argument ist, nicht für die Ausübung staatlicher Gewalt, die Rassifizierung prekärer Lebensrealitäten, nie! Eine Welt, in der wir einander unterstützen und zusammenstehen. In der wir Utopien leben, dazu stehen, dafür einstehen. In der wir auf der Sprengkraft kritischer, widerständiger und lebendiger Freiräume, unserer Freiräume, insistieren. Eine Welt, in die viele Welten passen!
Abolish the Police!
Deshalb gerade jetzt: Kommt zum Abolish! in die Anstadt! Ein volles Programm mit Workshops, Vorträgen, Filmvorstellungen, Diskussionen und mehr gegen Grenzen, Racial Profiling, Polizeigewalt, Patriarchat, Strafjustiz und das diskriminierende System! Für den Aufbau von emanzipatorischen Alternativen und radikale Fürsorge!
Noch bis am 25. Mai 2025 in der Anstadt in Bern.